Sapere aude
Sapere aude (Betone: sápere aúde) ist ein lateinisches Sprichwort oder besser der Mittelteil eines lateinischen Sprichwortes. Komplett lautet es:
Dímidiúm factó, qui coépit, habét: saper(e) aúde, / íncipe.
Rudolf Helm übersetzt: „Einmal begonnen ist halb schon getan. Entschließ dich zur Einsicht! / Fänge nur an!“ (Horaz: Satiren und Episteln, übersetzt von Rudolf Helm. Artemis, Zürich/Stuttgart 1962, S. 220 f.)
Wie man liest, bedeutet die Überschrift in dieser Übersetzung etwas anderes, als in anderen Übersetzungen, wie zum Beipiel „Wage es, weise zu sein“ oder „Wage zu wissen!“ (Im Rumänischen heißt es wohl „sei vorsichtig!“)
Meist wird es in der Interpretation Immanuel Kants zitiert, der es 1784 zum Leitspruch der Aufklärung erklärte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Wikipedia) Friedrich Schiller übersetzte es mit „Erkühne dich, weise zu sein.“
Heute, da die Aufklärung eigentlich wieder immer wichtiger werden müsste, wird der Spruch gerne verwendet als „ich denke selbst!“ und steht meistens bei Menschen, die genau dies eben nicht selbst tun, sondern sich von so genannten alternativen Medien vorkauen lassen, was sie zu denken haben. Auch Kant benutzte bereits den Begriff des „Selbstdenkenden“:
„Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich verbreiten werden.“ (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, 1784, H. 12, S. 481–494)
Bleiben wir kurz bei Kant, denn er schrieb auch folgendes:
„Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, […] gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ (Ebenda)
Und genau da steckt die Falle. Man beginnt nämlich nicht, selbst zu denken nur wenn man die Quellen seiner Desinformation und Manipulation wechselt. Es ist für die Menschen schwierig, sich aus der gewohnten Unmündigkeit herauszuarbeiten. Sie haben sie sogar liebgewonnen und sind wirklich unfähig, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und sich eigene Gedanken zu machen, weil sie nie die Chance dazu hatten oder es für sie nötig war.
Und seien wir ehrlich, es ist auch verdammt anstrengend.
Viel einfacher ist es, sich sagen zu lassen, was man denken soll. Das geht ja so weit, dass wir uns sagen lassen, was wir anziehen und was wir essen. Jetzt sehe ich vor meinem geistigen Auge die Fleischesser schon heftig nicken und ausrufen:
Tja, und schon stecken wir in der Falle. Denn wer hat uns überhaupt beigebracht, dass wir Fleisch oder in diesem Fall Schnitzel, essen sollen?
Die vorherrschende wissenschaftliche Meinung sieht den Menschen auf Grund seiner körperlichen Merkmale als Allesfresser an. Das heißt, dass er weder wie ein Tiger nur Fleisch isst, noch wie ein Elefant sich rein vegan oder vegetarisch ernährt. Der Mensch gleicht eher dem Schwein und isst alles, was irgendwie essbar ist. Das war für uns schon immer von Vorteil, da so Menschen auch an Orten mit völlig unterschiedlichen Nahrungsangeboten leben konnten und können. Ohne Supermärkte, Discounter und Fachhändler wäre auch heute das Nahrungsangebot an der Küste sicher ein anderes als in den Alpen. Schreiben Sie einmal einem Inupiaq, Yupik oder Inuit vor, dass er kein Schnitzel mehr essen dürfe. Ich weiß nicht mal, ob es in deren Sprache ein Wort dafür gibt. In Indien dagegen leben rund 20 Prozent der Bevölkerung streng vegetarisch.
Aber bleiben wir in Deutschland. Das Ernährungsverhalten ist kein starres Konstrukt, sondern unterliegt einem fortschreitenden Wandel, der von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird unter anderem auch der Werbung, also gesteuert durch jene, die Produkte verkaufen wollen. In der jungen Bundesrepublik waren waren Kartoffeln und Getreide die Hauptnahrungsmittel. Der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch an diesen Lebensmitteln war fast dreimal so hoch wie der Verbrauch von Obst und Gemüse und überstieg zudem den Fleischverbrauch um fast das Achtfache. Von 1950 bis 1990 verdreifachte sich der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch von 37kg auf 100kg. Im Gegensatz dazu hat sich der Verbrauch von Kartoffeln und Getreide halbiert. Ach, die gute alte Zeit. Damals in den sechziger Jahren kamen die Vermarkter auf die Idee und suggerierten den potenziellen Kunden: „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“, was auch immer das bedeutet, aber wer damit groß wurde, der hat es verinnerlicht, genau wie „die Milch machts“. Heute ist diese Lebenskraft nur noch Ramschware im Supermarkt, die in großen Mengen verkauft werden muss, da sie in großen Mengen unter teilweise schrecklichen Bedingungen für Mensch und Tier produziert wird. Die Erzeugungsmenge von Schweinefleisch in Deutschland geht mit einem Selbstversorgungsgrad von 125,8 Prozent weit über die Deckung des Eigenbedarfs hinaus.
Jetzt denkt doch bitte mal sebst.
Wem nutzt es, wenn Du täglich Dein Schnitzel/Fleisch isst?
Warum isst Du wirklich Schnitzel/Fleisch?
Werden diese Fragen ehrlich beantwortet, dann kommt man vielleicht dahinter, dass es wesentlich aufmüpfiger wäre der Agrarlobby den Stinkefinger zu zeigen, als sich weiter von ihr vorschreiben zu lassen, dass gefälligst Fleisch auf den Tisch gehört.
Ich schreib ja, Selbstdenken ist scheiße. Man ertappt sich nämlich selbst. Bei den Klamotten sieht es doch nicht anders aus. Mit der wechselnden Mode, bekommen wir vorgeschrieben, dass weiße Socken nicht in Sandalen gehören und dass man gefälligst mit Jogginhose rumläuft. Und welches Auto haben wir zu fahren? – Das ist nebensächlich, denn wichtig ist, dass wir Auto zu fahren haben, darum sind wir auch davon überzeugt.
Die Einflussmöglichkeiten auf uns sind so vielfältig und mittlerweile auch so ausgefeilt, dass man uns fast alles verkaufen und weismachen kann. Und egal wie gut wir aufpassen und denken, wir werden immer wieder drauf reinfallen.